Historische Zusammenhänge sehen, ohne Angriffe zu entschuldigen - Zum Krieg in der Ukraine

Wenn man gegenwärtig mit FreundInnen, Verwandten und Bekannten über denrussisch-ukrainischen Krieg diskutiert, kommt man leicht in eine Zwickmühle. Es gibt nur Pro und Contra: für die Ukraine und gegen Russland oder umgekehrt. Dabei geraten historische Hintergründe und Zusammenhänge oft in Vergessenheit.

Man kann aber durchaus an solche Zusammenhänge und Hintergründe erinnern, ohne damit den Angreifer, also Russland, zu entschuldigen. Kein Angriff mit Todesfolgen ist gerechtfertigt, egal wo und aus welchen Gründen er erfolgt. Das gilt auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen genauso wie auf der gesellschaftlichen und der internationalen Ebene. Aber nur, wenn man die historischen Hintergründe kenntund in Rechnung stellt, hat man eine Chance, haltbare Friedenslösungen zu finden.

Mag sein, dass Putin ein neues Zarenreich anstrebt, mag sein, dass er machtsüchtig ist. Die Kriegführung gegen Tschetschenien und die Besetzung der (ursprünglich russischen, von Chruschtschow an die damals zur Sowjetunion gehörende Ukraine abgetretenen) Krim deuten darauf hin. Aber warum folgt ihm ein so großer Teil der russischenBevölkerung? Nur aus Angst, sonst eingesperrt zu werden? Das halte ich für wenig wahrscheinlich. Auch Diktatoren benötigen Zustimmung und Unterstützung von unten. Um die mehrheitliche Haltung der Russen zu verstehen, muss man weiterzurückblicken. 

Nicht zufällig ist in Russland der 9. Mai, also der Tag des Sieges über Nazi-Deutschland 1945 (bei uns der 8. Mai), noch immer ein Staatsfeiertag. Russland ist im 20. Jahrhundert zweimal von Deutschland angegriffen worden. Es hat im zweiten Weltkrieg (Ukraine eingeschlossen) fast 25 Millionen Menschen verloren, Deutschland und Österreich zusammen „nur“ 7 Millionen. Im Zweiten Weltkrieg hat ein ukrainisches Bataillon unter Bandera auf der Seite Deutschlands gekämpft. 

Während des Zweiten Weltkriegs hat es, so wurde vor einiger Zeit im Österreichischen Rundfunk berichtet, rund eine Million Vergewaltigungen polnischerund russischer Frauen durch deutsche Soldaten gegeben. Die Russen galten als „Untermenschen“und wurden so behandelt.

Als ich 1961 am Amerikanisch-Europäischen „March for Peace“des „Committee for Nonviolent Action“(CNVA) teilnahm, der 1960 in San Franzisko begonnen wurde und quer durch die Vereinigten Staaten nach New York und über England, Belgien, die DDR, Polen und Weiß-Russland bis Moskau führte(1), um in allen Staaten für einen ersten, einseitigen Schritt beim Verzicht auf die damals noch oberirdischen Atomwaffen-versuche mit ihrem gewaltigen Output an Kernenergie und deren katastrophalen Folgen(2) zu werben, war mein erstes Erlebnis in der Sowjetunion, in Brest-Litowsk (heute Weißrussland) das Folgende: Vor Beginn der Veranstaltung hatten wir unsere viersprachigen gelben Flugblätter verteilt, in denen wir den Grund und das Ziel unseres Demonstrationszuges dargestellt hatten. Während der Veranstaltung stand ein Weißrusse in den hinteren Reihen des vollen Saales auf und schrie aus Leibeskräften: „Wollt ihr, dass die Deutschen wiederkommen und unsere Kinder in die brennenden Häuser werfen?“Diesen Moment werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Als wir auf den Vorplatz zurückkehrten, lag der ganze Platz voll mit unseren klitzeklein zerrissenen gelben Flugblättern.

Auch mein am 8. Mai 1945 gefallener Vater, ein überzeugter Nazi, hatte am Russland-feldzug teilgenommen. Deutschland hatte beim allmählichen Zurückweichen vor der sowjetischen Armee eine Strategie der „verbrannten Erde“ verfolgt. Unvergessen in Russlandbis zum heutigen Tag!

Nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete die Sowjetunion verständlicherweise nach diesen Erfahrungen an ihrer westlichen Grenze einen Cordon Sanitaire, einen Schutzgürtel, indem sie Truppen in Polen, der DDR, der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien stationierte und diese Staaten zu einem Bündnis mit der Sowjetunion zwang. So sollte ein neuerlicher deutscher Angriff verhindert werden.

Bei den Verhandlungen zwischen Deutschland und Russland Ende der 1980er Jahre über die deutsche Wiedervereinigung unter Gorbatschow wurde mündlich nach verschie-denen Quellen vereinbart, dass deutsche Truppen die Oder-Neiße-Grenze nicht überschreiten dürften. Es ist nicht unumstritten, ob es diese Vereinbarung tatsächlich gab, aber angesichts der entsetzlichen russischen Erfahrungen ist es ziemlich wahrscheinlich. 

Der renommierte, aus Polen stammende US-amerikanische Politikwissenschaftler und Politikberater Zbigniew Kazimierz Brzeziński bezeichnete Russland während der Obama-Regierung als nur mehr „drittrangigen Staat.“ Das war ein Stachel, derdie russische Regierung antrieb, Russland wieder zu einer anerkannten Weltmacht aufzubauen. 

Als Russland Anfang des neuen Jahrtausends darum warb, in die EU aufgenommen zu werden, wurde das abgelehnt. Danach hat Putin bei einer Tagung in Westdeutschland (2007) unumwunden erklärt, dass er von nun an eine antiwestliche Politik betreiben werde.  

Als die NATO entgegen der Vereinbarung von 1989 unter Einschluss Deutschlands 2017 Manöverbis kurz vor Kaliningrad (das ehemalige Königsberg) durchführte, erklärte die russische Regierung, dass man sich bedroht fühle. Meines Wissens gab es darauf keine westliche Reaktion.

Muss man sich nach alledem wundern, dass Russland verhindern möchte,erneut vom Westen bedroht zu werden? Doch wie gesagt, das alles rechtfertigt den Angriff auf die Ukrainenicht, nachdem sie sich dem Westen zugewandt hatte. Aber es macht ihn verstehbar. 

 (1) Mein Bericht darüber erschien 1962 im Selbstverlag. Einige Exemplare sind noch erhältlich.

(2) Diebei diesen Testsfreigesetzte Radioaktivitäthatte „weltweit ca. 300.000 Todesfällezur Folge“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Kernwaffenest

 

Dokument als Word-Dateo: Zu den Hintergründen des russischen Angriffs auf die Ukraine