18. November 2020

Ein Beispiel für die Wirkung von Haltungen

 Der Philosoph Gerhard Stamer (geb. 1939) berichtet von seiner ersten Begegnung in den 1950er Jahren mit Ernst Werner, dem Direktor des Engelbert Kämpfer-Gymnasiums in Lemgo - eine Stunde, die sein Leben prägte. Ein Beispiel dafür, was eine Haltung bewirken kann. (Siehe auch: Volkhard Brandes, Reiner Steinweg, Frank Wende (Hg.), Ich verbiete euch zu gehorchen. Ernst Werner - Lehrer aus Leidenschaft wider die politische Unvernunft, Frankfurt: Brandes & Apsel 1988):  

Begegnung 

Wenn man gerade die Mittlere Reife erworben hat, das süddeutsche Lager Weinsberg in der Nähe von Heilbronn hinter sich hatte, dort auch in eine Anstalt namens Schule ging und dann als Flüchtling aus Ostberlin in Lemgo mit seiner Mutter auf dem Schulhof stand und sich umsah, wo wohl das Sekretariat zur Anmeldung sein könnte, war man ganz froh, dass da ein Mann mit kurz geschnittenem Haar und forschem Schritt vorbeikam, den man für den Hausmeister hielt, und der um einen Augenblick bat, um uns Bescheid zu geben. Es dauerte nicht lange, bis er zurückkam und uns bat, ihm zu folgen. Wir traten in einen Raum ein, der nicht nach dem des Hausmeisters aussah, eher wie der des Direktors. Und als der für einen Hausmeister Gehaltene sich an mich, nicht an meine Mutter, wandte und fragte wie ich heisse, wo ich herkomme und noch einiges andere, wusste ich: das ist der Direktor. Ich wusste, das ist mir zum ersten Mal passiert: Ein Direktor, der mich direkt anspricht und nicht die Mutter als erwachsene Vertreterin eines für unmündig gehaltenen jungen Menschen. Und ich wusste, dieser Mann mit den aufmerksamen Augen, der kurzen Ansprache, der eindringlichen Konzentration auf mich, dass war mir noch nie passiert: Ich war wahrgenommen, ernst genommen worden, als Ich. Das Lernen machte Spaß wie nie. Ich schrieb nur Einzen, jedenfalls drei, vier Monate lang. Und ich übersprang eine Klasse. Die Geburt eines Ich. Als dann im Unterricht klar wurde, dass es sich bei diesem Dr. Werner um einen Philosophen handelt, war nicht nur eine Anregung für ein Studium gegeben, sondern eine Perspektive fürs Leben. 1994 - fast fünfzig Jahre später - gründete ich des philosophische Institut REFLEX, das ich bis jetzt betreibe. Gerhard Stamer